Zitat von
Andreas Eschbach
Wir schreiben den Januar 2021. Ich bin 62 Jahre alt und froh darum, denn das bedeutet, dass ich noch viel von den guten Zeiten miterlebt habe. Die, die heute jung sind, können einem nur leid tun.
Ich habe schon lange niemanden mehr fragen hören, wo denn die atomgetriebenen Hubschrauber seien, so, wie man es kurz nach dem Jahr 2000 gern gemacht hat. Auch die ganzen alten Visionen von Kolonien auf dem Mars und dergleichen sind irgendwie aus dem allgemeinen Denken verschwunden – kein Wunder, es findet ja auch praktisch keine bemannte Raumfahrt mehr statt. Die internationale Raumstation ist verlassen, und es fangen gerade Diskussionen an, sie kontrolliert zum Absturz zu bringen. Nochmal hundert Milliarden für den Ars*h? Darauf kommt’s inzwischen auch nicht mehr an.
Denn: Was sind noch hundert Milliarden in der Ära von galoppierender Inflation, Staatsbankrotten und Rezession? Solche Beträge gehen uns doch längst am Ars*h vorbei; wir haben echt Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel, zu schauen, wo wir Lebensmittel herkriegen, die einigermaßen was taugen.
Wenn ich heute, am Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, an das erste Jahrzehnt zurückdenke, dann denke ich vor allem: Mann, ging’s uns damals noch gut! Was hatten wir für Luxusprobleme! Da konnten wir tagelang dran leiden, dass wir das neueste iPhone nicht in einer Farbe gekriegt haben, die zu unserem Lieblingspulli aus ökologisch-dynamischer Wolle gepasst hätte. Oder so. Mann, Mann, Mann.
Froh bin ich auch, dass mir seinerzeit – das war so um den Sommer 2010 herum, wenn ich mich recht entsinne – ein Bekannter, der damals noch in der Abteilung Zukunftsentwicklung eines großen Automobilherstellers gearbeitet hat (er hat kurz danach gekündigt, frustriert, weil die Vorstände sich null für Zukunftsperspektiven interessiert haben), von einem Spruch erzählt hat, der damals in den Kreisen dieser Leute kursierte: Wenn du in deinem Leben noch ein paar Fernreisen machen willst, dann mach sie vor 2015.
War ein guter Ratschlag, wenn man sich anschaut, was vom Luftverkehr noch übrig ist: Die meisten Flugverbindungen eingestellt, die Mehrzahl der Fluggesellschaften vom Markt verschwunden, die Preise unbezahlbar geworden. Was natürlich auch mit der fraglos bedeutsamsten Umwälzung des letzten Jahrzehnts zu tun hat – dem Zusammenbruch der Ölversorgung. Dem Peak Oil. Denn tatsächlich so um das Jahr 2015 herum war die Ölförderung endgültig nicht mehr imstande, mit dem Bedarf der Weltwirtschaft Schritt zu halten, und besagte Weltwirtschaft war auf diese „überraschende“ Veränderung aber mal sowas von nicht gefasst, dass es nur so krachte. Und da unter den in diesem Moment Regierenden praktisch niemand mehr war, der je eine richtige Krise erlebt oder gar bewältigt hatte (eine Krise in dem Sinne, „wenn das Falsche getan wird, sterben Menschen“), wurden vorwiegend Maßnahmen getroffen, die sich als Nachrichtenmeldungen gut machten, aber nichts bewirkten oder zumindest nichts Positives.
Die Große Krise begann mit allem, was mit Transport und Verkehr zu tun hatte. Hätte man uns vor zehn Jahren erzählt, was für Preise an Tankstellen mal verlangt werden, es hätte keiner geglaubt. Keiner. Und dabei muss man heute von Glück reden, nicht an die Tankstelle zu kommen und an allen Zapfsäulen „Momentan ausverkauft“-Schilder zu sehen. Supermärkte in abgelegenen Gebieten haben das Angebot an frischer Ware reduziert und dafür die Preise erhöht. Innerdeutsche Flüge sind verboten. Alles redet von Elektroautos, aber die sind sündhaft teuer, und es ist schon klar, dass man den bestehenden Fuhrpark dadurch nicht ersetzen kann, zumindest nicht mit der bis jetzt entwickelten Technologie, weil zur Herstellung der Batterien Rohstoffe nötig sind, von denen weltweit bei weitem nicht genug vorhanden ist. Man wird sich der Entwicklung neuer Technologien widmen, doch die Anstrengungen hierzu kommen zu spät, um die große Krise abzuwenden.
Man redet hektisch davon, auf Biodiesel umzurüsten, aber das wird absehbar ein Schuss in den Ofen, denn längst hat die Große Krise auf die Landwirtschaft übergegriffen. Jemand hat mal moderne Landwirtschaft definiert als die Methode, Erdöl in Nahrung zu verwandeln, und nun begreifen wir allmählich, was das heißt: Düngemittel und Schädlingsbekämpfungsmittel sind Erdölprodukte, Traktoren und andere landwirtschaftliche Geräte brauchen Treibstoff, die ganzen Transportwege, Verarbeitungsabläufe und so weiter sind weitgehend von Benzin als Treibstoff abhängig. Die Erträge sind schon weltweit im Sinken begriffen, munkelt man, und die Rückkehr großer Hungersnöte nur eine Frage der Zeit.
Hart war es auch für die, die mit Öl heizten. Glücklicherweise war der erste Winter, dank der Klimaerwärmung, ungewöhnlich mild, deswegen sind weniger Menschen erfroren als befürchtet. Hersteller von alternativen Heizsystemen erlebten einen Boom, der inzwischen aber verpufft ist, da die Kaufkraft der Bevölkerung dramatisch gesunken ist. Oder wie jemand irgendwo schrieb: „Früher hatten wir Angst vor Hartz IV. Wenn wir heute lesen, was das beinhaltete, werden wir grün vor Neid.“
Man nutzt in verstärktem Ausmaß Erdgas aus Russland, was Russlands Macht und Einfluss auf Europa weiter verstärkt. Beschlossene Sache ist, den Kohlebergbau wieder zu beleben; das Thema CO2 und Klimaerwärmung wird dafür „einstweilen“ von der Prioritätenliste gestrichen. Soweit die AKWs in Deutschland noch nicht abgebaut waren, sind auch sie wieder in Betrieb genommen worden: Der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg ... Doch da es derartigen Anlagen nicht gut tut, lange stillzustehen, haben sich im Betrieb Schäden bemerkbar gemacht, die für Anwohner unangenehme Folgen haben. Sagt man. Derartige Dinge werden totgeschwiegen, weil es kritische Medien nicht mehr gibt. Auch das Internet taugt nicht mehr als Quelle für alternative Informationen.
Das Internet! Erinnert sich noch jemand daran, was für eine herrliche Wildnis das mal war? Als es noch nicht weitgehend unter Kontrolle der Mächtigen stand? Erinnert sich noch jemand an Julian Assange, den weißhaarigen Kopf von Wikileaks, der kurz nach seiner Verurteilung in Schweden unter geheimnisvollen Umständen verunglückt ist? Tja. Die Generation der Regierenden, die mit Computern nichts anfangen konnten, ist inzwischen ausgestorben, und die nächste Generation wußte schon genau, wie der Hase läuft, und hat die zur Sicherung ihrer Macht erforderlichen Maßnahmen getroffen. Das wissen alle die Blogbetreiber gut, die aufgrund von Straftatbeständen, die man vor zehn Jahren noch nicht einmal kannte, im Gefängnis sitzen oder, wenn sie Glück hatten, mit Mühe die exorbitanten Strafen abstottern, die man ihnen aufgebrummt hat. Man muss heutzutage aufpassen, was man postet, und sich Sorgen machen um das, was man mal gepostet hat. Ist alles noch da und kann eines Tages gegen einen verwendet werden. Jede Bestellung unbotmäßiger Bücher bei Amazon, jeder Forumsbeitrag, in dem man eine heute missliebige Meinung geäußert hat, jedes hochgeladene Foto, auf dem man mit jemandem zu sehen ist, der in der Folge unangenehm aufgefallen ist.
Deswegen lass ich es mal dabei. Hab schon zu viel gesagt. Na ja. Zum Glück bin ich schon 62. In dem Alter zehrt man von den Erinnerungen an bessere Zeiten.
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