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Dr.Tom
(...) Mit einer Stilmischung aus Realismus, karikaturesker Verzeichnung und asiatischer Kunst entwickelt der Comic Bilder, in die sich eintauchen lässt und die einen dann - mit der tendenziell chinesisch-japanischen Flächigkeit der Naturdarstellung - dennoch immer wieder zur Distanz und zur Besinnung auf das (abstrakte) Thema nötigen.
Ähnlich changiert die Erzählung: Die Geschichte lenkt einen im ersten Teil immer wieder auf andere mögliche Entwicklungspfade, deren Sujets man kennt - den Sozialroman (mit einer anderen Perspektive auf Fremdenfeindlichkeit), die enthnographische Erzählung (über den harschen Süden mit seinen archaischen Traditionen), die Liebesgeschichte oder den Entwicklungsroman (der bis in den zweiten Teil hineinragt)... Erst spät wird das eigentliche Thema enthüllt.
Das Thema aber ist tiefsinnig - oder möchte es zumindest sein - und dazu will ich ein paar Gedanken zur Diskussion stellen. Deshalb enthält der Text ab hier notgedrungen SPOILER.
*Jenseits der Zeit* hat ein religiöses Thema - es geht um Wiedergeburt, die als tragendes Element aus dem Hinduismus und Buddhismus vertraut ist (es gibt auch noch ein paar andere religions- und geistesgeschichtliche Orte, an denen die Wiedergeburt eine Rolle spielt - bei Platon etwa - aber ich will mich hier auf die beiden großen Religionen beschränken, die die Wiedergeburt am intensivsten durchgearbeitet haben). Auffällig finde ich, dass die Wiedergeburt, die für die fünf ProtagonistInnen der Geschichte doch immerhin DIE große Entdeckung bilden, ohne jede Perspektive auf einen überschreitenden, "größeren" Sinn verhandelt wird: Die bahnbrechende Erkenntnis beschränkt sich darauf, dass die Fünf in jedem Leben sich treffen und so über die Zeit (eigentlich die jeweilige biographische Zeitspanne) hinaus miteinander verbunden sind. "Wir werden uns wiedersehen", ist gewissermaßen alles, was die Erzählung den Fünfen an Sinn anzubieten hat (ergänzt vielleicht noch úm das "Wir kennen uns von früher", was aber auch keinen überschreitenden Sinn bietet).
Man könnte das auch als eher deprimierend empfinden: Die große Liebesgeschichte von Lisa funktioniert ja nicht in dem "gegenwärtigen" Leben, sondern scheitert. Ob sie ein andermal glückt, steht dahin, aber selbst wenn sie gelingt, bleibt dies auch auf eine weitere Biographie beschränkt. Die anderen, in Lisa verliebten Figuren kommen jeweils nicht zum Zug - oder, wenn die einmal eingestreute Bemerkung so interpretiert werden darf, sie wechseln sich zwar miteinander ab, aber auch in diesem Fall bleibt sozusagen alles immer dasselbe. Was uns die Geschichte liefert, ist die Ewige Wiederkehr des Gleichen - allenfalls mit kleinen Variationen - über unendlich viele Leben hinweg und ohne Möglichkeit des Ausstiegs.
Für den Buddhismus ist gerade diese ewige Wiederkerhr des Gleichen das Rad des Leidens, aus dem es einen Ausweg geben muss. Entsprechend kennt der Buddhismus für das Menschenleben die Chance der Höher- und Weiterentwicklung: Die verbliebende Schuld, die Beschädigungen des ungelösten, vorherigen Lebens - das Karma der vergangenen Existenzen - gilt es hier zu verarbeiten und eine höhere Bewusstseinsstufe zu erringen. Am Ende des gelungenen Weges steht das Nirvana - der Ausstieg aus dem Rad des Leidens, wobei der Buddhismus sich dessen enthält, das Nirvana eindeutig zu beschreiben: als Transzendierendes ist es aus dem Blickwinkel unserer Existenz nicht hinreichend zu erfassen.
Die großen Religionen kreisen alle um ein gemeinsames Thema: Erlösung. Um diese beschreiben zu können, greifen sie alle über "diese Welt" hinaus in eine überschreitende (transzendente) Sphäre. *Jenseits der Zeit* tut das nicht (auch wenn die Erzählung mit "jenseits" betitelt ist - mit der Ewigen Wiederkehr bleibt sie im Bereich der endlosen Geschichte "dieser Welt"). Warum? Spiegelt sie das seit der Religionskritik des 18. Jahrhunderts immer wieder verkündete "Ende der Religion"? Drückt sich in ihr eine Zeitstimmung aus, die die Überschreitungsdimension des Religiösen (mit Freud gesprochen) als Illusion betrachtet - und Aufgeklärtheit als den illusionslosen Abschied von religiösen Hoffnungen sieht? Und die dann die ja dennoch bleibende Sehnsucht des Menschen nach dem Überschreitenden eher esoterisch in eine Ewige Wiederkehrt projiziert?
(...)
Dr.Tom
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