Hier geht es nicht um das Format von "Jenseits der Zeit", sondern ausschließlich um den Inhalt. Ich habe deshalb aus den Zitaten alles herausgekürzt, was sich nicht auf die Geschichte bezieht.

Zitat Zitat von deif
Es gibt viele Comic-Alben, die mich provozieren, solche, die mich gleichgültig lassen und andere, die mich bestens unterhalten. Nur sehr selten kommt es aber vor, dass mich ein Comic-Band berührt, ergreift oder sowas... "Jenseits der Zeit" hat das geschafft.

Ich muss sagen: Ich bin hell begeistert (...). Und der Preis dürfte sich wohl auszahlen, wage ich zu behaupten...

Kann sich diesem Eindruck sonst noch jemand anschliessen?
Zitat Zitat von Clint Barton
Hier!
Wunderbares Comic - mMn eine der besten dt. Veröffentlichungen seit langem und die Beste seit "Der Alltägliche Kampf" Bd. 1.

Der Band lädt herrlich zum träumen und schwelgen ein, vereint Harmonie und Melancholie perfekt und hat ganz starke Zeichnungen. Danke @ Carlsen für dieses Meisterwerk.
Zitat Zitat von Matbs
Superschöner Band, mit das Beste, was dieses Jahr auf Deutsch rausgekommen ist. (...)
Zitat Zitat von cubbie
Ich habe den Band gestern in die Hand genommen, mal drin geblättert und mich dann spontan zum Kauf entschlossen, da mir die Zeichnungen gut gefallen haben.

Sicher ist der Preis am oberen Limit (...), aber der erste Eindruck war sehr gut und auch beim zweiten Blättern (zum lesen komme ich noch) muss ich sagen: Wirklich schön gemacht und das Geld wert. (...)
Zitat Zitat von TigerRider
...so, ich hab's gelesen. Habe lange nach einem passenden Wort gesucht, welches meine Empfindungen beim Lesen ausdrücken kann:

AUFWÜHLEND

Im positiven Sinne.
(...)
Das Werk: Atemberaubend, 9. Kunst pur
(...)
Jens
Zitat Zitat von Briareos
(...) diejenigen, die aufgrund von Äußerlichkeiten auf einen Kauf verzichten, verdanken Ihrer Borniertheit eine prächtige Genußlücke. (...)
Zitat Zitat von cubbie
(...) Also ich habe das gute Stück in Ruhe durchgelesen und fasse zusammen:

Tolle Geschichte, absolut lesenswert, entwickelt sich sehr schön.

Toll gezeichnet (...)

Fazit: Wieder 2 Namen (Georges Abolin , Olivier Pont) mehr auf meiner Liste.

Danke an Carlsen, dass diese Geschichte veröffentlicht wurde. Für mich war es das Geld absolut wert. (...)
Zitat Zitat von Dr.Tom
(...) Mit einer Stilmischung aus Realismus, karikaturesker Verzeichnung und asiatischer Kunst entwickelt der Comic Bilder, in die sich eintauchen lässt und die einen dann - mit der tendenziell chinesisch-japanischen Flächigkeit der Naturdarstellung - dennoch immer wieder zur Distanz und zur Besinnung auf das (abstrakte) Thema nötigen.

Ähnlich changiert die Erzählung: Die Geschichte lenkt einen im ersten Teil immer wieder auf andere mögliche Entwicklungspfade, deren Sujets man kennt - den Sozialroman (mit einer anderen Perspektive auf Fremdenfeindlichkeit), die enthnographische Erzählung (über den harschen Süden mit seinen archaischen Traditionen), die Liebesgeschichte oder den Entwicklungsroman (der bis in den zweiten Teil hineinragt)... Erst spät wird das eigentliche Thema enthüllt.

Das Thema aber ist tiefsinnig - oder möchte es zumindest sein - und dazu will ich ein paar Gedanken zur Diskussion stellen. Deshalb enthält der Text ab hier notgedrungen SPOILER.

*Jenseits der Zeit* hat ein religiöses Thema - es geht um Wiedergeburt, die als tragendes Element aus dem Hinduismus und Buddhismus vertraut ist (es gibt auch noch ein paar andere religions- und geistesgeschichtliche Orte, an denen die Wiedergeburt eine Rolle spielt - bei Platon etwa - aber ich will mich hier auf die beiden großen Religionen beschränken, die die Wiedergeburt am intensivsten durchgearbeitet haben). Auffällig finde ich, dass die Wiedergeburt, die für die fünf ProtagonistInnen der Geschichte doch immerhin DIE große Entdeckung bilden, ohne jede Perspektive auf einen überschreitenden, "größeren" Sinn verhandelt wird: Die bahnbrechende Erkenntnis beschränkt sich darauf, dass die Fünf in jedem Leben sich treffen und so über die Zeit (eigentlich die jeweilige biographische Zeitspanne) hinaus miteinander verbunden sind. "Wir werden uns wiedersehen", ist gewissermaßen alles, was die Erzählung den Fünfen an Sinn anzubieten hat (ergänzt vielleicht noch úm das "Wir kennen uns von früher", was aber auch keinen überschreitenden Sinn bietet).

Man könnte das auch als eher deprimierend empfinden: Die große Liebesgeschichte von Lisa funktioniert ja nicht in dem "gegenwärtigen" Leben, sondern scheitert. Ob sie ein andermal glückt, steht dahin, aber selbst wenn sie gelingt, bleibt dies auch auf eine weitere Biographie beschränkt. Die anderen, in Lisa verliebten Figuren kommen jeweils nicht zum Zug - oder, wenn die einmal eingestreute Bemerkung so interpretiert werden darf, sie wechseln sich zwar miteinander ab, aber auch in diesem Fall bleibt sozusagen alles immer dasselbe. Was uns die Geschichte liefert, ist die Ewige Wiederkehr des Gleichen - allenfalls mit kleinen Variationen - über unendlich viele Leben hinweg und ohne Möglichkeit des Ausstiegs.

Für den Buddhismus ist gerade diese ewige Wiederkerhr des Gleichen das Rad des Leidens, aus dem es einen Ausweg geben muss. Entsprechend kennt der Buddhismus für das Menschenleben die Chance der Höher- und Weiterentwicklung: Die verbliebende Schuld, die Beschädigungen des ungelösten, vorherigen Lebens - das Karma der vergangenen Existenzen - gilt es hier zu verarbeiten und eine höhere Bewusstseinsstufe zu erringen. Am Ende des gelungenen Weges steht das Nirvana - der Ausstieg aus dem Rad des Leidens, wobei der Buddhismus sich dessen enthält, das Nirvana eindeutig zu beschreiben: als Transzendierendes ist es aus dem Blickwinkel unserer Existenz nicht hinreichend zu erfassen.

Die großen Religionen kreisen alle um ein gemeinsames Thema: Erlösung. Um diese beschreiben zu können, greifen sie alle über "diese Welt" hinaus in eine überschreitende (transzendente) Sphäre. *Jenseits der Zeit* tut das nicht (auch wenn die Erzählung mit "jenseits" betitelt ist - mit der Ewigen Wiederkehr bleibt sie im Bereich der endlosen Geschichte "dieser Welt"). Warum? Spiegelt sie das seit der Religionskritik des 18. Jahrhunderts immer wieder verkündete "Ende der Religion"? Drückt sich in ihr eine Zeitstimmung aus, die die Überschreitungsdimension des Religiösen (mit Freud gesprochen) als Illusion betrachtet - und Aufgeklärtheit als den illusionslosen Abschied von religiösen Hoffnungen sieht? Und die dann die ja dennoch bleibende Sehnsucht des Menschen nach dem Überschreitenden eher esoterisch in eine Ewige Wiederkehrt projiziert?
(...)
Dr.Tom
Zitat Zitat von navigator
Es ist schön, das du dich mit diesen Comic und dem Thema auseinandergesetzt hast und solche tiefen Gedanken nachvollziehst. Es hat dich erreicht und du erblickst die Tiefe hinter diesem Werk mit Gefühl. Das ist das schönste Kompliment was man den Künstlern geben kann.

Für manche ist es nur ein schön gezeichnetes und erzähltes Comic, für andere viel mehr...
(...)
Zitat Zitat von Hate
Vermutlich könnte man den Kern dieser Geschichte genauso gnadenlos zerpflücken, wie Stefan Dinter mal den Plot von "Blacksad" zerlegt hat*. Aber genau wie "Blacksad" bleibt "Jenseits der Zeit" trotz aller Unlogik ein wunderbarer Comic mit einer einzigartigen Atmosphäre.

* http://www.comicgate.de/whatever02.htm
Zitat Zitat von felix da cat
Zitat Zitat von Dr.Tom
Die großen Religionen kreisen alle um ein gemeinsames Thema: Erlösung. Um diese beschreiben zu können, greifen sie alle über "diese Welt" hinaus in eine überschreitende (transzendente) Sphäre. *Jenseits der Zeit* tut das nicht (auch wenn die Erzählung mit "jenseits" betitelt ist - mit der Ewigen Wiederkehr bleibt sie im Bereich der endlosen Geschichte "dieser Welt").
Zu beachten ist natürlich, dass der Originaltitel ein anderer und auch viel poetischer ist, frei übersetzt etwa: "Wohin der Blick nicht trägt"
Zitat Zitat von TigerRider
Sehr guter Einwand!
Zitat Zitat von felix da cat
(...) Da dies so 'ne Art Rezension ist, sollten alle, die noch vorhaben, den Band zu lesen, sich jetzt verabschieden, 's wird einiges verraten (ich werd 'nen Teufel tun und das alles "zuspoilern".

Der Band "Jenseits der Zeit" ist für mich ein ... ähem ... dualer Comic und das in mehrerlei Hinsicht.
Zum einen natürlich in Bezug auf die Anzahl der Teile (in Frankreich klar auf zwei Alben verteilt), zum anderen aber auch was Ort (1. Teil: Süditalien, 2. Teil: Istanbul und Costa Rica) und Zeit (1. und 2. Teil liegen 20 Jahre auseinander) betrifft.
Angesichts der Hauptthematik des Buches, der Reinkarnation, böten sich allein in dieser Dualität mannigfaltige weitere, über die von Dr. Tom hinaus reichende religiöse Deutungen - Stichworte: Januskopf, Yin und Yang, Parsismus usw. - an, doch würde man hierbei mE den Blick auf das Wesentliche verlieren und - nebenbei bemerkt - weit über das Ziel hinaus schiessen..

Der erste Teil breitet sich noch wenig mit religiösen Motiven aus; erzählt wird vielmehr die (be)rührende Geschichte einer Kinderfreundschaft, die sich auch gegen die von den Dogmas der Erwachsenen (z.B.: "Spiel nicht mit den Fremden !") gesetzten Widerstände bewährt.
Erstaunlich unaufgeregt, ja geradezu langsam fließt die Geschichte dahin ohne langweilig zu werden.
Nicht die großen, spektakulären Ereignisse ziehen den Leser in den Bann sondern eher die kleinen alltäglichen wie die Mutprobe, die die vermeintliche Hauptfigur William (wenngleich sich das Tun und Streben der drei Jungen wesentlich um Lisa kreist, rückt sie erst später völlig in das Zentrum der Erzählung; auch hier fast eine Verlagerung der Hauptfigur vom 1. zum 2. Teil) zu bestehen hat oder - gleich zu Anfang - die kleinen Boshaftigkeiten, insbesondere des männlichen Teils des jungen Quartetts.
Vielleicht war es nicht nur die örtliche und zeitliche Spaltung der Geschichte, die den französischen Verleger Dargaud bewog, diese in zwei statt - wie bei der vorhandenen Seitenzahl eigentlich üblich - in vier Alben zu veröffentlichen sondern auch die bereits erwähnte Langsamkeit, die so diametral entgegen gesetzt steht zum üblichen Sinnenbombardement. Befürchtete man, dass man viele Leser mit der relativ handlungs(im Sinne von action-)armen Geschichte verlieren würde ?
Ein gewisser Impetus wird dennoch und ausgerechnet durch die 2seitigen Einschübe im ersten Teil der Handlung bewirkt. Einschübe, die schon erahnen lassen zu welcher Thematik wir im zweiten Teil der Handlung hingeführt werden.

Die Assoziation, die mich nach dem Lesen des ersten Teils befiel, und das ist sicher nicht die schlechteste, war die von großem Kino. Einem in epischer Breite gemächlich aber stetig erzähltem Werk, dass langsam - durch das Erzählen kleiner, unterhaltsamer, in die Charaktere einführender Episoden - auf seinen unvermeidlichen Höhepunkt zuschreitet.

Kaffeepause.
Zitat Zitat von felix da cat
2. Teil (der dualen Rezension):

Mit dem zweiten Teil beginnen die Schwierigkeiten des geneigten Lesers, der mit Esoterik und Religion nicht viel "am Hut" hat.
Zweifelsohne ebenso wunderbar wie der erste Teil gezeichnet, verlieren sich die Helden nicht nur in einem in dunkle Farben getauchten Dschungel (der den zweiten Teil somit erneut zu dem ersten der hellen, Unbeschwertheit vermittelnden Farben absetzt) sondern später auch in "Erklärungen" der Ereignisse, die für den areligiösen Leser schwer zu verdauen sind:
Die zu einem Quintett angeschwollene Gruppe der Hauptfiguren unterliegt nämlich einer permanenten Reinkarnation.

Freilich bietet dies auch dem hierfür empfänglichen Leser keinen Trost, denn wenn sich in diesem Buch Leben reinkarniert, dann auch der psychopathische Charakter von Leopold (jetzt Thomas).
Wenn sich Leben reinkarniert, dann fühlt sich Lisa erneit in einer Art "amour fou" zu ausgerechnet der Person hingezogen, die ihr so viel Pein bereitet hat und von der sie auch in Zukunft nichts anderes zu erwarten hat.
Hier wird die Reinkarnation dargestellt als ein Perpetuum mobile des Leidens.

Noch ein Wort zum Titel:
Selbiger hieße sinngetreu übersetzt: "Wohin der Blick nicht trägt".
Angesichts des Inhaltes der Geschichte empfinde ich diesen als wesentlich doppelbödiger als den deutschen, ganz abgesehen davon, dass er poetischer ist, etwas, was einem poetischen Comic auch ansteht.
Warum konnte Carlsen dem nicht Rechnung tragen ?
Zitat Zitat von TigerRider
Zitat Zitat von felix da cat
... Zweifelsohne ebenso wunderbar wie der erste Teil gezeichnet, verlieren sich die Helden nicht nur in einem in dunkle Farben getauchten Dschungel (der den zweiten Teil somit erneut zu dem ersten der hellen, Unbeschwertheit vermittelnden Farben absetzt)...
Ich fühlte mich beim betrachten sehr an Frank Pé erinnert. Die Passage mit den Vögeln vor dem Wald hat was von "Zoo".
Zitat Zitat von Dr.Tom
(...) Zum Titel: Der französische Originaltitel weist auf etwas Ähnliches wie der deutsche Titel, nämlich darauf, dass es *jenseits* der normalen Erfahrungswelt - dort, wohin unsere Sinnlichkeit (*le regarde* des yeux humaines, wenn ich das mal so fortsetzen darf) nicht vordringen kann - etwas gibt, das aber existenziell bedeutsam und sinnstiftend für das Leben der Menschen/Hauptfiguren ist. Auf dieses *Jenseits* zielte meine Überlegung und da es in beiden Titelformulierungen damit um denselben Aspekt geht, den ich herausheben und diskutieren wollte, habe ich mich der Verständlichkeit halber auf den deutschen Titel beschränkt. Dieser Aspekt ist, dass interessanterweise dieses *Jenseits* - ou le regard ne porte pas - immer noch eine Immanenz ist, keine Transzendenz. Genau das macht den Unterschied zu den Erlösungskonzepten der Religionen aus - und hier auch gerade wieder den Unterschied zu den Reinkarnationsvorstellungen des Buddhismus und der hinduistischen Religionen, die die Wiegen dieser Vorstellungen sind. Ich finde das immer noch bemerkenswert - aus den Religionen geschöpft, wird hier deren Konzeption verkürzt bzw. immanentistisch gewendet. Das müßte eine religiöse (oder theologische oder religionsphilosophische) Beschäftigung mit der Erzählung eigentlich genauso stören, wie eine religionslose...

Mit Blick auf den französischen Titel übrigens lässt sich noch erwähnen, dass 1970 Vincente Minelli in seinem Film *On a clear day you can see forever* eine ähnliche Geschichte erzählt, jedenfalls was den Punkt betrifft, um den es mir geht: Barbara Streisand und Yves Montand sind hier in eine amour fou verwickelt und treffen sich unausweichlich in jeder Reinkarnation wieder. Der widerborstige Punkt ist hier, dass sie sich in dem Leben, das in der erzählten Zeit des Films als Gegenwart dargestellt wird, von ihrer sozialen Herkunft und ihrer intellektuellen Kompetenz her so unterscheiden, dass sie ihrer wechselseitigen Anziehung nicht nachgeben können. In einer Schlüsselszene singen sie sich von zwei entfernten Orten aufeinander zu - und das Sinnversprechen des Films ist, ähnlich wie in JdZ, dass sie sich wieder begegnen werden - in einem anderen Leben unter geeigneteren Umständen, also vielleicht demnächst wieder zueinander finden können -, doch das ist dann auch hier schon alles. Eine Überschreitung der Immanenz, ein Ausstieg aus der Kette der Reinkarnationen und der Gebundenheit aneinander erscheint nicht möglich. Mit dem Titel, der auch auf das Sehen abhebt, hat der Film zudem eine Parallel zum französischen Titel.

Interessant wäre, ob sich Abolin und Pont von diesem Film haben inspirieren lassen.

Dr.Tom